Als Podiumsgäste waren die Sozialethikerin Professorin Dr. Michelle Becka von der Universität Würzburg und der Sozialmediziner und Aktivist Dr. Gerhard Trabert aus Mainz eingeladen. Letzterer konnte aufgrund einer Coronainfektion nicht direkt an der Veranstaltung teilnehmen und wurde über Internet live zugeschaltet. Becka stellte gleich zu Beginn ihres Kurzreferates die These auf, dass das Teilen, wie es Sankt Martin getan hat, zwar etwas Gutes sei, dass das aber nicht ausreiche, um die Strukturen zu verändern, die Armut bewirken. Was es wirklich brauche, sei echte Gerechtigkeit, sagte Becka. „Dabei ist das Wahrnehmen und die Erkenntnis ‚Der andere geht mich etwas an‘ ein erster und wichtiger Schritt“, erklärte die Professorin für Christliche Sozialethik.
Trabert hob in seinem Statement hervor, dass es bei allem Engagement eben nicht um die sogenannte ‚Charity‘ gehen darf, bei der man in einer Geste der Großzügigkeit ein paar Wohltaten verteilt. „Tatsächlich geht es um Menschenrechte“, sagte der Sozialmediziner, der in Mainz ein Projekt der aufsuchenden Gesundheitsvorsorge entwickelt hat. Für ihn ist es beispielsweise unverständlich, dass die kürzlich im Bundestag beschlossene Einführung des Bürgergeldes, die für alleinstehende Erwachsene eine Erhöhung des bisherigen Hartz-IV-Satzes um 53 Euro zur Folge hat, von einigen Politikern aus der Opposition als „Katastrophe“ bezeichnet wurde. Er erinnerte daran, dass das jetzt geforderte Energiesparen an den Armen vorbeigeht. „Ein Prozent der oberen Haushalte verbrauchen so viel Energie wie 16 Prozent der unteren Haushalte, oder anders gesagt: 250.000 Menschen aus der Oberschicht verbrauchen so viel wie vier Millionen Menschen in prekären Situationen“, erklärte Trabert mit Bezug auf entsprechende Studien. Aber genau diese Menschen träfen die Verteuerungen besonders hart. Er erhielt Applaus, als er sagte: „Wer mehr hat, muss auch mehr leisten – aber da trauen wir uns wohl noch nicht so richtig dran.“
Becka und Trabert waren sich einig, dass es in der Gesellschaft mehr Solidarität und Gerechtigkeit braucht. „Warum richtet sich die Empörung oft nach unten und nicht nach oben, warum fordern wir nicht lauter Gerechtigkeit?“, fragte Becka. Trabert fügte hinzu, dass ihm bei Gesprächen mit Politikern oft auch eine große Unwissenheit über die Lebenssituation armer Menschen begegne. Gut bekannt ist deren Situation dagegen bei den Mitarbeiterinnen der Caritas. Einige von ihnen berichteten an diesem Abend von ihren Eindrücken.
Christopher Franz, Vorstand des Caritasverbands Aschaffenburg, erklärte, dass gerade die aktuelle Kampagne der Caritas „Das machen wir zusammen“ der Frage nachgehe, was die Gesellschaft zusammenhält. Christoph Schlämmer, der unter anderem im Allgemeinen sozialen Beratungsdienst der Caritas beschäftigt ist, beklagte, dass auf Grund des aktuell großen Andrangs ein pädagogisches Arbeiten kaum mehr möglich ist. „Wir sind eher Sachbearbeiter, die beim Ausfüllen von Anträgen helfen“, sagte Schlämmer. Das aber reiche seiner Meinung nach nicht, um den Menschen zur echter Teilhabe zu verhelfen. Daniel Elsässer von der Flüchtlings- und Integrationsberatung nannte die Beratungsstellen einen Seismographen der Gesellschaft: „Es ist in unserer Verantwortung, unsere Erkenntnisse rückzukoppeln, wenn wir zum Beispiel sehen, was da passiert, wo öffentliche Förderungen zurückgezogen werden.“ Wie es der Gesellschaft aktuell geht, könne man auch bei der ökumenischen Telefonseelsorge feststellen, sagte Christiane Knobling, Leiterin der Telefonseelsorge für den Untermain. „60 Prozent der bei uns eingehenden Anrufe kommen von Menschen, die unter Armut leiden“, führte sie aus. Sie forderte einen Perspektivenwechsel: Unter diesen Menschen seien viele Leistungsträger, die in schlecht bezahlten Jobs für die Gesellschaft wichtige Aufgaben erledigen. Auch deswegen sei es notwendig, hier die Stimme zu erheben, sagte Knobling und fügte mit Blick auf ihren Arbeitgeber an: „Kirche ist mir da oft noch viel zu leise.“
Viele der aktuellen Probleme seien natürlich nicht mit der Situation zu vergleichen, in der sich der heilige Martin befand, als er vor rund 1700 Jahren seinen Mantel mit dem Bettler teilte. Doch dessen Bescheidenheit und sein Leben in bewusster Einfachheit könnten durchaus auch Anregung für die heutige Zeit sein, lautete eine Erkenntnis des Abends. Im Austausch der Teilnehmenden war mehrfach zu hören, dass es in der deutschen Mittelschicht ein Jammern auf hohem Niveau gebe. „Wir müssen uns auch an die eigene Nase fassen“, drückte es ein Mitarbeiter der Caritas aus. Sozialethikerin Becka sagte: „Mein Eindruck ist: Einige haben große Probleme damit, den Gürtel ein wenig enger zu schnallen“. Trabert war besonders wichtig: „Alle Menschen haben den gleichen Wert, deswegen muss ich ihnen auf Augenhöhe begegnen.“ Und hier schließt sich wieder der Kreis beim heiligen Martin. Auf manchen Darstellungen steigt er vom Pferd herab, wenn er den Mantel teilt.
bv (POW)