Die Stimme der Opfer hören
Mayer und Schnitzler, die beide im Kindesalter von Priestern missbraucht worden waren, schilderten eindrücklich, wie mit ihnen umgegangen wurde, als sie sich überwunden hatten, die Taten bei ihrer jeweiligen Ortskirche zu melden. Mayer, die sich 2005 an ihr damaliges Bistum wandte, sprach von Einschüchterungsversuchen durch den Justiziar der Diözese und davon, wie sehr sie dadurch verletzt wurde. „Ich bin erschüttert, dass es bis heute Reaktionen gibt, die darauf hinauslaufen, mich einzuschüchtern“, sagte sie. Die Präventionsarbeit, die inzwischen in den Diözesen eingeführt wurde, sehe sie skeptisch. „Aufarbeitung ist die beste Form der Prävention, und dabei sollten auch die Opfer eingebunden werden“, sagte Mayer. Nach ihrer Einschätzung würde das aber nirgends passieren. Darüber hinaus gab sie zu bedenken, dass es auch Konzepte brauche, um eine Gemeinde zu begleiten, wenn bekannt geworden ist, dass ihr Pfarrer zu den Tätern gehört.
Schnitzler stellte am Beispiel seines Täters dar, wie solche Menschen an ihre Opfer kommen und wie sie dabei ihre besondere Stellung als Priester ausnutzen. Er war als Zwölfjähriger an einen Serientäter geraten, der nach seinen Recherchen mindestens 19 Kinder missbraucht habe. Tatort sei beispielsweise der Beichtstuhl gewesen, wo der Priester sich von den Kindern ihre sexuellen Fantasien erzählen ließ. Autofahrten, Ausflüge ins Schwimmbad oder der Aufenthalt in der Sakristei wurden laut Schnitzler als Gelegenheit genutzt, sich an den Kindern zu vergehen. „Als Pfarrer der Gemeinde hatte er die Macht und viele Möglichkeiten, sie auszunutzen“, sagte Schnitzler, der in seinem Heimatbistum einer Initiative von Opfern sexuellen Missbrauchs durch Angehörige der katholischen Kirche angehört. Er sei 2010 durch die Aufdeckung der Vorgänge im Berliner Canisius-Colleg ermutigt worden, sich den Ereignissen in seiner Vergangenheit zu stellen. Auch er empfindet bis heute die Unternehmungen seines Bistums, die Vorgänge aufzuklären, als wenig hilfreich. Für den inzwischen laisierten Täter seien die Übergriffe ohne wirkliche Konsequenzen geblieben. „Die katholische Kirche in ihrer klerikalen Verfassung nimmt die Opfer nicht wahr und meidet den Kontakt mit ihnen“, lautete sein persönliches Fazit.
Pastoralreferentin Lehnert versuchte in ihrer theologischen Einordnung darzulegen, warum sich die Institution Kirche so schwer tue mit einer klaren Haltung gegenüber den schuldig gewordenen Priestern. Als Beispiel erzählte sie von einem Opfer, das sich überwunden hatte, im Bistum Trier die Tat eines Priesters anzuzeigen. Als es seiner Mutter von dem Vorhaben erzählte, sei deren Reaktion gewesen: „Wenn du das tust, brauchst du mein Haus nicht mehr zu betreten.“ Das Priesterbild sei für die Gläubigen zu einer nicht hinterfragbaren Projektionsfläche aufgebaut worden, erklärte Lehnert. Dessen scheinbar direkter Draht zu Gott, seine Möglichkeit, die Sünden zu vergeben, seine symbolische Rolle im Rahmen der Eucharistiefeier würden seine überhöhte Position festigen. „Dazu kommt, dass durch die Interpretation des Kreuzestodes Jesu als Opfer eine Ideologie entstanden ist, die geradezu dazu auffordert, nicht auf sich selber zu schauen“, sagte die Theologin. Die Fehlübersetzung einer Stelle im Hebräerbrief (Hebr 5,1) hätte dazu geführt, den hier eigentlich gemeinten Jesus auf alle Priester zu übertragen. „Das kann Allmachtsphantasien produzieren“, sagte die Pastoralreferentin. Dabei sei Jesus selber durchaus kritisch mit dem Rollenbild des Priesters umgegangen. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter beispielsweise gehe der Priester an dem am Boden liegenden Opfer vorüber und man dürfe laut Lehnert durchaus fragen: „Hat er ein versteinertes Herz, weil er in einer versteinerten Institution arbeitet?“ Man gewinne nach ihren Worten jedenfalls den Eindruck, dass ein Täterpriester von der Institution eher als eine Gefahr für das System denn als eine Gefahr für das Opfer gesehen werde.
In der anschließenden Diskussion meldeten sich auch zwei Teilnehmer zu Wort, die nach eigener Aussage in der Diözese Würzburg zu Opfern geworden sind und in der Auseinandersetzung damit ähnliche Erfahrungen gemacht hätten wie Mayer und Schnitzler. „Man tut so, als ob der Missbrauch immer woanders stattfindet“, kritisierten beide. Und sie stellten fest: „In keiner Diözese in Deutschland gibt es ein Gremium, in dem auch ein Missbrauchsopfer sitzt.“ Eine andere Teilnehmerin erzählte, wie sie erst kürzlich in einem Gottesdienst vom Pfarrer zu hören bekam, dass sich die Kirche wegen der Missbrauchsvorfälle nicht ändern würde. Sie hätte ihn nach dem Gottesdienst darauf angesprochen und keine Antwort bekommen. „Der hat mich einfach stehen lassen“, sagte sie, gab aber gleichzeitig der Hoffnung Ausdruck, dass die Kirche sich reformieren könne. Dabei sei aber die Kirchenleitung am Zug.
bv (POW)