Es ist ein regnerischer Nachmittag in der Altstadt von Aschaffenburg. Vogt führt die Gruppe weiter durch die Straßen und Kirchen der Stadt – „auf den Spuren des heiligen Martin“, des Schutzpatrons Aschaffenburgs. Seit 2016 bietet der Gemeindereferent einmal jährlich vor dem Martinstag die gleichnamige Stadtführung an. Gemeinsam mit den Teilnehmern betrachtet er Gemälde und Skulpturen an Hauswänden und Kirchen, erzählt bekannte und weniger bekannte Geschichten über den heiligen Martin und stellt dessen soziale Bedeutung dar. Der Schutzpatron habe vielerorts Spuren hinterlassen. Vogt möchte, dass seine Zuhörer an diesem Tag bewusst auf diese Spuren achten und die „Stadt mit anderen Augen betrachten“.
Im Laufe des Martins-Spaziergangs wird der Himmel langsam dunkel und die Straßenlaternen leuchten. Vogt hält an einer Straßenecke. „Das Schönste überhaupt“, kündigt er an und blickt auf den Boden. Die Teilnehmer tun es ihm gleich. Bernward Vierheilig aus Alzenau streckt den Hals, tritt einen Schritt vor, um einen besseren Blick zu haben – auf einen Kanaldeckel. Er wird von den umliegenden Laternen und Schaufenstern gerade noch gut beleuchtet. In der Mitte darauf zu sehen: ein Bischof mit Stab und Mitra unter einem Torbogen. Daneben Türme und Dächer. Die Stadt Aschaffenburg lege seit zirka zwölf Jahren diese Gullydeckel mit dem Stadtwappen in den Touristenstraßen aus, erzählt Vogt. „Etwa 100 gibt es davon mittlerweile.“ Aber handelt es sich hierbei um den heiligen Martin? Vogt hat nachgefragt: „Das Tiefbauamt sagt ‚Ja‘, der Historiker Dr. Hans-Bernhard Spieß ‚Ja und nein‘.“ Der heilige Martin sei es einmal gewesen, als die Figur auf dem Wappen bis 1290 noch einen Heiligenschein trug. Mittlerweile handle es sich um den Bischof von Mainz, gibt Vogt die Worte des Historikers wieder und schaut in die Runde. „Jeder, der die Gullydeckel kennt, sagt, es ist der Martin“, wirft eine Frau ein. Vogt nickt und lächelt. Die Geschichte sei eines der Highlights seiner Führung, erklärt er später. Und vielleicht haben manchmal „die Leute mehr Recht als die Historiker“.
Doch „der Name Martin prägt die Stadt nicht nur bildlich“. Das macht Vogt mehrmals deutlich. Auch der Gedanke des Teilens lebe in den Straßen Aschaffenburgs noch heute fort. Daher stößt während der Führung Cécile Heeg vom Sozialkaufhaus der Diakonie Untermain zur Gruppe hinzu. Die Teilnehmer versammeln sich unter dem sogenannten „Kronkorkenbaum“, einem Baum, unter dem viele Flaschendeckel liegen. Der Baum hat sich zum Treffpunkt für Menschen in problematischen sozialen Lagen entwickelt. Heeg spricht über die Hilfe für Obdachlose. „Was kann ich selbst für obdachlose Menschen tun?“, fragt eine Frau. Es sei erst einmal wichtig, wahrzunehmen, dass es Obdachlose gibt, lautet die Antwort von Heeg. Das Sozialkaufhaus stelle darüber hinaus Essen und Schlafplätze zur Verfügung. Für die Menschen da zu sein, sei wichtig.
Ebenso ums Teilen geht es beim Stopp in der Kleiderkammer des Martinushauses. Die Führungsteilnehmer haben sich zwischen den Kleiderstangen verteilt. „Wenn es um die Mantelteilung geht, sind wir in der Kleiderkammer natürlich genau an der richtigen Stelle. Hier wird Kleidung geteilt“, stellt Christoph Schlämmer von der Caritas die Einrichtung im Keller des Martinushauses vor. Hier könne gebrauchte Kleidung für Bedürftige abgegeben werden. Gerade in Zeiten von Inflation und Energiekrise seien diese Angebote wichtig, und Hilfe gebe es nie genug, betonen die Mitarbeitenden der Kleiderkammer. „Ich wusste gar nicht, dass es die Kleiderkammer gibt“, wundert sich eine Teilnehmerin.
Nicht nur für sie bringt die abendliche Führung neue Erkenntnisse. Am Ende scheinen fast alle Teilnehmer etwas Neues über den heiligen Martin gelernt zu haben. Bei Tee und Martinswecken sitzen sie gemeinsam mit Vogt an Tischen im Konferenzraum des Martinushauses. „Alles neu“, lautet das Feedback von Bernward Vierheilig. Andrea Schneider aus Johannisberg hatte zum heiligen Martin zuvor das Bild aus Kindertagen im Kopf gehabt, das „sehr geprägt war vom Martinsumzug“. Nun haben sie die Details überrascht. Eine andere Teilnehmerin lobt die Informationen zu den „Menschen am Rande der Gesellschaft in Aschaffenburg“. „Ein nasser Nachmittag, aber der Rest war wunderbar“, folgert eine Teilnehmerin. Vogt zeigt sich angesichts dieser Rückmeldungen zufrieden. Wenn sogar ein paar Martin-Kenner sagen, „da war einiges neu für mich, dann ist das gut“, lautet sein Fazit. Ein paar Kindheits-Martins-Erinnerungen gibt es am Ende dann auch noch. Vogt packt die Gitarre aus, setzt sich auf einen der Tische, und gemeinsam singen sie: „Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind...“
Stichwort: Martinsstationen in Aschaffenburg
In Aschaffenburg finden sich über die ganze Stadt verteilt Bezüge zum heiligen Martin. Darunter zwei Bilder im Eingangsbereich des Martinushauses und eine abstrakte Figur des Heiligen und des Bettlers im Innenhof des Veranstaltungshauses, die nach dem Neubau 2003/04 dort aufgestellt wurde. Die Martins-Darstellung in der Sankt Agatha-Kirche hängt am Ende des rechten Seitengangs. In der Stiftsgasse 11 ist eine Martinsdarstellung mit Gänsen in die Wand eingelassen. Nur ein paar Schritte weiter, an der Stiftsgasse 7/9, stand früher die Martinskapelle. Sie wurde aufgrund von Baufälligkeit abgerissen. Die Kanaldeckel mit dem Stadtwappen finden sich unter anderem in der Sandgasse und in der Badergasse. Informationen zum nächsten Rundgang und weiteren Veranstaltungen des Martinushauses gibt es unter www.martinushaus.de und im Programmheft.
chd (POW)
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